tl;dr: criticalmass.in wird am 30. September abgeschaltet.
Irgendwann im Sommer 2011, als die Welt schon längst nicht mehr in Ordnung war, aber immer noch mehr in Ordnung als heute, als die Klimakrise noch Klimawandel hieß und die meisten von uns gar nicht so genau wussten, in welcher Reihenfolge die Buchstaben im Wort Kyjiw auftauchen, beziehungsweise wo Kyjiw überhaupt liegt, da meinte Facebook (für die jüngeren unter uns: Ein so genanntes gesellschaftliches Netzwerk), hey, Malte, guck mal, ein Freund von dir besucht so ein Fahrrad-Ding namens Critical Mass, darf ich dir das auch vorschlagen?
Facebook durfte. Die Critical Mass am 24. Juni 2011 war meine erste Critical Mass und zugleich eine Radtour, die mein Leben in den folgenden elf Jahren erheblich prägten.
Nun, meine allererste Critical Mass verlief eher so lala, wir fuhren über rote Ampeln, im Gegenverkehr, gerieten dann mit der Polizei aneinander, die schon mit Helmen bewehrt uns den Weg versperren wollte, und irgendwann endete die ganze Sache irgendwo in der Mitte der Reeperbahn. Wie man es von mir kennt, legte ich in meiner gewohnten Sachlichkeit und mit bewundernswerter Ruhe am nächsten Tag auf Facebook dar, wie scheiße ich die Tour fand und dass ich auf gar keinen Fall unter überhaupt keinen Umständen noch einmal mitfahren würde.
Weil ich aber nicht nur für meine unendliche Ruhe, sondern auch für meine Konsequenz berühmt bin, registrierte ich ein paar Tage später mehrere Domainnamen zum Thema Critical Mass, denn ich hatte ja meine Kamera mitgeschleppt und musste ja irgendwo mit den ganzen Fotos abbleiben. Einer dieser Domainnamen war criticalmass.in.
Und so begann eines der schönsten Hobbys, das ich mir vorstellen konnte: Radfahren, fotografieren und gleichzeitig irgendwelchen geilen Scheiß in diverse Webseiten hacken. Was kann es schöneres geben? Es ist nicht einmal übertrieben, wenn ich behaupte, jede freie Minute an criticalmass.in geschraubt zu haben. Zu früh am Treffpunkt der Critical Mass? Notebook raus und noch ein bisschen was tippen. Frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit in die Bahn steigen? Notebook raus und noch ein bisschen was tippen? Die Party ist langweilig? Notebook raus und ein bisschen was tippen.
So profitierte ich auch beruflich von dieser Webseite, die meine Spielwiese wurde, um neue Technologien auszuprobieren und auf dem neusten Stand zu bleiben. Das war bei meinen bisherigen Arbeitgebern durchaus ein nennenswerter Vorteil: Irgendwo gibt es ein Problem? Fein, schau mal, hier habe ich so etwas schon umgesetzt.
Etwa um 2018 herum begann ich, nicht nur die Critical-Mass-Touren im Hamburger Umland zu besuchen, sondern deutschlandweit am letzten Freitag im Monat mit der Bahn herumzureisen, nicht nur für die Critical Mass, sondern auch um die Infrastruktur in anderen Städten kennen und hassen zu lernen. War schon wirklich geil.
Zu spät für einen würdigen Abgang
Okay, cool, und nun, elf Jahre und ein paar Monate später, über 250 Teilnahmen an Critical-Mass-Touren in über 50 deutschen Städten und zwei Mal in London mache ich die Seite dicht. Schade.
Für einen würdigen Abgang ist es längst zu spät, criticalmass.in hat seine besten Zeiten längst hinter sich. Es krankt seit mehreren Jahren an diversen Problemen, die sich in vier Problemfelder sortieren lassen:
Erstens ist das ganze Ding mehr oder weniger ein Ein-Mann-Betrieb. Zwar lässt sich mit einem criticalmass.in-Nutzerkonto so ziemlich alles editieren und konfigurieren und über fünfzig mehr oder wenige aktive Nutzer*innen tragen regelmäßig Teilnehmer*innenzahlen, Treffpunkte und neue Städte ein, aber das reicht eben leider nicht für einen verlässlichen Betrieb der Seite.
So trudeln beispielsweise etwa zwei Supportanfragen pro Tag in meinem Postfach ein und das sind exakt zwei mehr als ich pro Tag beantworten kann. Ich komme einfach nicht mehr hinterher: Entweder beantworte ich die Mails oder ich behebe die technischen Probleme, deretwegen die Support-Anfragen verfasst wurden. Und irgendwann muss ich auch noch essen, schlafen, haupt- und nebenberuflich arbeiten und wenn ich hin und wieder mal aufs Rad komme, ist das auch ganz schön.
Technisch so geil wie ein rostiges Klapprad
Denn, zweitens, technisch gesehen habe ich zwar jede freie Minute an criticalmass.in geschraubt, doch ist die ganze Software mittlerweile auf einen Umfang gewachsen, der nicht mehr zu handhaben ist. In der Softwareentwicklung nennt man so etwas einen Monolithen und die Lösung ist, kleine Services zu bauen, die jeweils gekapselt voneinander kleine Aufgaben übernehmen und mit der eigentlichen Anwendung Daten austauschen.
Das hat den Vorteil, dass ich an den kleinen Services Änderungen vornehmen und Fehler beheben kann, ohne damit rechnen zu müssen, dass an ganz anderen Stellen eines Monolithen wieder etwas auseinanderfliegt. Ein Service kümmert sich beispielsweise um das Einsammeln von Beiträgen aus gesellschaftlichen Netzwerken, ein anderer berechnet monatlich die jeweiligen Touren für den nächsten Monat, wieder ein anderer speichert die Wetterberichte zu den einzelnen Touren.
Allein diese drei Services haben dermaßen viele Abhängigkeiten aus dem Monolithen entfernt, dass es für mich schon eine erhebliche Erleichterung war — aber leider längst nicht genug.
Denn vorne im Frontend, also dem, was ihr als Nutzer sehen könnt, ist hoffnungslos veraltet. Um das ganze Layout nicht selbst schreiben zu müssen, habe ich ein Framework namens Bootstrap eingesetzt, das Vorlagen für die allermeisten Elemente mitbringt und mir einen Haufen Arbeit abgenommen hat. Dumme Sache nur: Auf criticalmass.in läuft Bootstrap immer noch auf Version 3.
Dann unternahm ich den Versuch, alles auf Version 4 zu aktualisieren. Das klappte aber nicht, weil ich gleichzeitig requireJS eingesetzt habe. Kennt ihr nicht? Kein Problem, ist auch nicht mehr angesagt. requireJS war mal das Ding, um JavaScript-Kram ein bisschen zu modularisieren, also den Quellcode fürs Frontend schöner zu handhaben. Macht man heute schon wieder ganz anders, deshalb wollte Bootstrap 4 auch nicht mit requireJS zusammenarbeiten.
Also muss ich den ganzen JavaScript-Kram umbauen. Das geht aber nicht einfach so, indem man hier und da ein bisschen was ändert, eigentlich muss alles neu implementiert werden und bei der Gelegenheit natürlich viel besser, mit aktuellen Schnittstellen und den neusten Techniken. Dauert halt auch wieder eine Ewigkeit und mittlerweile gibt es schon Bootstrap 5, klar.
Und es gibt neben dem Frontend, dass einmal komplett überarbeitet werden müsste, so viele Baustellen: Alles geht irgendwie geiler, alles ist mindestens zwei bis vier Jahre alt, in der Softwareentwicklung fühlt sich das nach einer Ewigkeit an. Die Registrierung muss überarbeitet werden, die Abwehr von Spammer-Robotern verbessert, die Integration mit diesem Blog vorangetrieben werden. Ehrlich gesagt: Damit hätte eine kleine Firma mit fünf Angestellten schon ganz gut zu tun.
Und ich habe den ganzen Kram ganz alleine an der Backe, weil ich in der Vergangenheit zu unfähig war zu kommunizieren, dass man sich an diesem Projekt als interessierter Computermensch einbringen kann, beziehungsweise habe die Dokumentation für einen leichten Einstieg in die Mitarbeit zu sehr vernachlässigt.
Bußgeldbescheide: Nun wird’s teuer
Das dritte Problem ist eher ein rechtliches: Auch die verstaubten, längst nicht digitalisierten Ämter wissen mittlerweile, wie man eine Suchmaschine bedient und purzeln neuerdings gleich im Dutzend auf criticalmass.in raus. Mal ist man im Amt vollkommen überfordert, weil da zwanzig Radlinge trotz Radweg mitten auf der Straße gefahren sind, obwohl sich doch der Bürgermeister höchstpersönlich für diesen schönen Radweg an der Hauptstraße eingesetzt hat, in anderen Städten merkt man plötzlich erst nach vielen Jahren, dass man so etwas namens Critical Mass auch schon ewig unbemerkt mit sich herumschleppt und will das unterbunden haben, mal bringt das Amt auch gleich einen Bußgeldbescheid oder eine Strafanzeige mit, wahlweise wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz oder wegen gefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr, je nachdem, wonach gerade der Sinn stand.
Manchmal ruft auch plötzlich irgendeine Nummer aus irgendeiner Stadt an und wenn ich anschließend das Band abhöre (sagt man das heute noch so), ist es die Polizeidienststelle aus Hintertupfingen-Hinterwalde, die „so eine Art Fahrraddemmo“ gesehen hat und sich da mal mit mir unterhalten möchte, denn so ginge das nicht.
Und der ganze Kram kostet Zeit. Wenn ich großzügig annehme, dass mich jede einzelne dieser Anfragen drei Tage in Anspruch nimmt, dann könnt ihr euch ja ausrechnen, wieviel Lebenszeit dafür draufgeht.
Energiekosten: Nun wird’s richtig teuer
Aber all das kriegt man mit Zeit und Geld noch irgendwie in den Griff. Ist ja bislang auch immer noch gutgefangen.
Aber dieser Optimismus erfährt ein jähes Ende bei den aktuellen Strompreisen. Anfang des Jahres teilte mir mein Server-Anbieter mit, dass die Kosten für meinen Server, auf dem criticalmass.in, das Radverkehrsforum, Luft.jetzt und andere Projekte liegen, von 79,99 Euro pro Monat um 15 bis 40 Euro steigen werde aufgrund der aktuellen Energiekosten. Okay, wenn mir der Spaß 80 Euro pro Monat wert ist, dann auch noch 120 Euro pro Monat. Easy.
Das war vor dem russischen Überfall auf die Ukraine.
Ich brauche nicht viel Fantasie um mir auszumalen, dass die tatsächlich anstehende Preissteigerung wohl ein Vielfaches von 40 Euro sein wird. Und diese Preissteigerung wird flankiert von weiteren Preissteigerungen im privaten Bereich: Meine Frau und ich werden in diesem Winter wohl weder hungern noch erfrieren, aber die Kosten für Strom und Gas schränken unseren finanziellen Spielraum ein. Mutmaßlich steht uns in den nächsten Wochen noch eine Mieterhöhung ins Haus, die wohl eher schwindelerregend als nur drastisch ausfallen dürfte.
Dann lassen wir’s halt bleiben
Und dann stellt sich unterm Strich die Frage, ob ich mir zwischen den ganzen zusätzlichen Kosten noch ein Hobby leisten kann und möchte, das für mich einerseits mittlerweile mehr Stress als Lust bedeutet, andererseits erhebliche finanzielle und rechtliche Risiken mit sich bringt.
Ich muss in Zeiten wie diesen leider feststellen: Nein, das ist es mir nicht wert.
Und so ist der September der letzte Monat, in dem ich meine zwei oder drei Teilnahmen an diversen Critical-Mass-Touren mit Teilnehmer*innenzahl, Route und Fotos im Netz verewigen werde. Am 30. September ziehe ich den Stecker.
Nun bin ich bekanntlich kein Optimist, aber auch mir ist klar, dass längst nicht alles für immer ist: Natürlich behalte ich die Domainnamen sowie ein vollständiges Backup der Daten. Vielleicht kommen ja irgendwann bessere Zeiten. Ich mag’s zwar nicht glauben, aber man weiß ja nie.
Bis dahin: Alles Gute — und danke für die letzten wirklich geilen elf Jahre.
Und bevor es Missverständnisse gibt: Tot ist nur criticalmass.in — die Critical Mass lebt selbstverständlich weiter. Online und auf der Straße — nur nicht hier auf criticalmass.in.