Die erste Bremer Critical Mass scheiterte beinahe an einem kratzbürstigen Fahrkartenautomaten des Metronoms. Einen Schein nach dem anderen fraß das Gerät und spie es anschließend im hohen Bogen auf den dreckigen Fußboden, wo er zwischen den Beinen der hastigen Reisenden umherflog, sogar EC-Karten verschmähte der Apparat, während die Uhr im Hintergrund tickte: noch eine Viertelstunde bis zur Abfahrt und in den letzten zehn Minuten hatten wir gerade einmal ein einziges Gruppenticket gekauft. An die einzelnen Tickets für Fahrräder war noch gar nicht zu denken.
Tatsächlich war die Bremer Critical Mass am Sonnabend relativ häufig nahe am Scheitern. Der letzte Versuch endete in Ermangelung von mehr als 16 Teilnehmern bereits am Treffpunkt, also waren gestern neun Teilnehmer aus Hamburg auf dem Weg, den Bremern etwas Starthilfe zu geben. In Hamburg läuft die Critical Mass inzwischen mit über eintausend Teilnehmern hervorragend und insbesondere das Verhältnis zur Polizei ist nunmehr wirklich lobenswert, nachdem es allerdings in der Vergangenheit immer wieder Versuche gab, den Verband an der Weiterfahrt zu hindern. Inzwischen ist die Staatsmacht in der Hansestadt allerdings weiter und grüßt am letzten Freitag im Monat sogar schon Radfahrer mit Critical-Mass-Spokecards durchs Beifahrerfenster: „Geht’s zur Radtour?“ — „Jo.“ — „Na, dann bis später!“
In der anderen Hansestadt unten an der Weser scheiterte die Tour beinahe schon wieder an der Teilnehmerzahl. Um 19 Uhr war der Treffpunkt angesetzt, aber bis kurz vor 19.10 Uhr hatten sich exakt 15 Teilnehmer versammelt. Kurz darauf stießen noch einige Teilnehmer hinzu und um 19.15 Uhr machten wir uns auf den Weg durch die Innenstadt.
Eine Critical Mass war allerdings tatsächlich eine unbekannte Neuerung für die Bremer. Autofahrer hupten wutentbrannt und kamen überhaupt nicht mit der Situation zurecht, Fußgänger standen staunend am Straßenrand und machten den Eindruck, noch nie mehr als drei Fahrradfahrer auf einmal gesehen zu haben.
Sehr weit kamen wir nicht, denn auch die Bremer Polizei hatte so etwas noch nicht gesehen und fand das ganz ungeheuerlich. Nach nicht einmal fünf Minuten fuhr ein Streifenwagen hinter uns und wies uns an, doch bitte den Radweg zu benutzen, obwohl wir uns in einer Nebenstraße befanden, in der außerdem noch ein Tempolimit von 30 Kilometern pro Stunde galt. Nachdem wir das aber nicht wollten, schließlich waren wir nicht aus Hamburg angereist, um die Bremer Radwege auszutesten, fuhr der Streifenwagen mit vollem Orchester in die Masse und hielt uns zu einem Pläuschen auf.
Es folgten die üblichen Fragen, was wir denn machen und warum und wieso nicht auf dem Radweg und so weiter. Wir erklärten, dass wir nach § 27 Abs. 1 StVO als Verband auf der Fahrbahn durch die Stadt fahren möchten. Nochmal zur Erinnerung: die Hamburger Critical Mass versteht sich inzwischen mit der Polizei ganz prima. Trotzdem macht man auch in Hamburg im Alltag die Erfahrung, dass man mit allzu viel Regelkunde den Beamten eher suspekt ist. Wer dabei ertappt wird, einen nicht-benutzungspflichtigen Radweg nicht zu befahren und in der anschließenden Diskussion mit der Rennleitung gleich § 2 Abs. 4 StVO rezitiert, gilt meistens schnell als Querulant.
Dass die Bremer Kollegin allerdings auf den § 27 Abs. 1 StVO mit „Jaja, Straßenverkehrs-Ordnung, blabla, ihr müsst auf dem Radweg fahren“ reagierte, das erstaunt dann doch. Einerseits beklagt auch immer die Polizei die mangelnde Regelkenntnis insbesondere bei Radfahrern, beschäftigt man sich allerdings mit der Straßenverkehrs-Ordnung und kennt dann im Ernstfall die notwendigen Paragraphen, dann ist das auch nicht recht. In solchen Situationen fühlt man sich als Radfahrer verschaukelt, ganz egal ob bei der ersten Critical Mass in Bremen oder nachts auf der Elbchaussee, wenn man von der Polizei aufgegriffen wurde, weil statt des sandigen Gehweges die Fahrbahn benutzt wurde und das doch irgendwie verboten sein müsste.
Das schlimme ist, es wurde nicht besser, denn es fielen die üblichen Sätze wie „Wenn ein Radweg vorhanden ist, müssen Radfahrer ihn benutzen“, „Wenn es keinen Radweg gibt, fahren Sie auf dem Gehweg” und „Sie behindern den Verkehr“. Vielleicht mag es an der hektischen Diskussion gelegen haben, dass hin und wieder ein wesentliches Wort abhanden kam, aber so richtig toll war das alles nicht. Vor allem mussten die Beamten offenbar erst einmal nachschlagen, was es denn nun mit diesem seltsamen § 27 Abs. 1 StVO auf sich hatte, denn plötzlich verlagerte sich die Debatte von Benutzungspflichten und Radwegen auf die Fahrt als Verband. Allerdings fanden die Beamten dann plötzlich keine anderen Argumente mehr als den Kritikpunkt, wir wären nicht zu zweit, sondern teilweise zu viert nebeneinander gefahren.
Okay, klare Sache, im Sinne von § 27 Abs. 1 StVO ist das ein Verstoß, allerdings waren wir doch erstaunt, dass aus den ganzen vorigen Argumenten nichts anderes mehr übrig bleiben sollte als die Kritik, wir seien nicht in Zweierreihen gefahren. Wenn wir im Endeffekt sonst nichts falsch gemacht haben, dann war doch alles in Ordnung, mochte man glatt fragen. Einer der drei Beamten telefonierte kurz mit der Zentrale und siehe da: wir dürfen weiterfahren, aber eben nur zu zweit nebeneinander. Der Sinneswandel war erstaunlich, denn nur ein paar Sekunden zuvor hatte man uns noch angedroht, alle Fahrräder auf ihre Verkehrssicherheit zu überprüfen und die Personalien zu notieren, würden wir nicht auf dem Radweg fahren. Das wäre womöglich auch eine witzige Sache geworden, wenn sich die Beamten in der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung ähnlich gut wie in der Straßenverkehrs-Ordnung auskennen.
So radelten wir gut gelaunt und in Zweierreihen weiter und kamen wieder nur ein paar Kilometer weit. Erneut stoppte uns ein Streifenwagen, was machen wir denn da und warum und wieso? Für den weiteren Verlauf war es wichtig zu wissen, dass wir seit einiger Zeit an keinem benutzungspflichtigen Radweg vorbeigekommen waren. Man kann über die Bremer Polizei sagen was man will, aber auch in Bremen verschwinden die blauen Schilder offenbar sehr schnell. Insofern ging schon mal ein wesentlicher Teil der Kritik, wir beführen schließlich nicht den Radweg, ins Leere und auch die beiden Beamten reagierten ähnlich verstimmt wie ihre Kollegen auf den beinahe auswendig vorgetragenenen § 2 Abs. 4 StVO.
Während sich noch ein zweiter Streifenwagen dazugestellte und die Fahrbahn komplett gesperrt wurde, baten wir darum, doch eben in jener Zentrale anzurufen und die Sache abzuklären. Was vor zehn Minuten an einem benutzungspflichten Radweg in Ordnung war, kann nun an einem nicht-benutzungspflichtigen Radweg nicht verboten sein. Leider wurde dieser Bitte nicht entsprochen, stattdessen standen den zwanzig Teilnehmern nunmehr drei Streifenwagenbesatzungen gegenüber und ein Beamter, der offenbar mehr zu sagen hatte als die fünf anderen, führte die Debatte.
Kritik war nun, dass wir unseren Verband nicht mit Fahnen gekennzeichnet hatten. Unsere bisherige Interpretation der Rechtslage, die offenbar auch von der Hamburger Polizei geteilt wird, ging allerdings anders. Nach § 27 Abs. 3 StVO ist ein Verband geschlossen, wenn er für andere Verkehrsteilnehmer deutlich als Verband zu erkennen ist. In einer Zeit, die zwar als Fahrradboom bezeichnet wird, in der sich aber trotzdem Radfahrer nach Möglichkeit auf Rad- oder gar auf Gehwegen herumtreiben, seien zwanzig Fahrradfahrer auf der Fahrbahn eindeutig als zusammengehörig zu erkennen. Das mag irgendwann einmal anders sein, wenn der Radverkehrsanteil noch weiter steigt und der Radfahrer auf der Fahrbahn keine Seltenheit mehr darstellt, aber momentan sollte allein das Fahrrad als Kennzeichnung genügen. Schließlich verlangt § 27 Abs. 3 StVO explizit auch nur die Kennzeichnung jedes einzelnen Teilnehmers in einen Kraftfahrzeugverband, der wir nunmal nicht waren. Leider gingen die Beamten auf diese Argumente nicht ein, einerseits waren wir wohl wieder zu regelkundig und damit zu suspekt, andererseits eröffneten leider einige Teilnehmer ein paar unnötige Kriegshandlungen.
Mal als Tipp von den Hamburger Teilnehmern: wenn man mit der Polizei diskutiert, dann reitet man nicht auf irgendeinem Stuss herum. Es ist ganz egal, ob die Beamten uns Duzen oder Siezen und es vollkommen egal, übrigens auch in rechtlicher Hinsicht, ob die Beamten ihre Dienstmütze tragen oder nicht. Und wenn man dann noch das Grundgesetz und die freie Fahrt für freie Bürger zitiert, dann wird’s wirklich lächerlich. Natürlich ist man als Radfahrer in der Regel genervt, wenn die Polizei das Gespräch sucht, aber dann reißt man sich eben mal für fünf Minuten zusammen, anstatt mit vereinten Kräften ständig und immerzu den Beamten ins Wort zu fallen, weil sie keine Mütze tragen und das doch alles doof sei. Man muss es wohl als Erfolg verbuchen, dass wenigstens kein Hitler-Vergleich bemüht wurde und uns die Beamten im Endeffekt noch weiterfahren ließen.
Die Beamten taten sich nunmal wieder schwer, uns zwanzig Fahrradfahrer einzuordnen. Wir wollten offenbar nicht demonstrieren, also schlugen wir das Angebot aus, eine spontane Demonstration hier und jetzt anzumelden, um in Polizeibegleitung einmal um in Innenstadt zu kreisen. „Wo wollen Sie denn eigentlich hin“, wurden ich plötzlich gefragt und weil mir nichts besseres einfiel und ich den Dom aufgrund der umgebenden Fußgängerzone für ungeeignet hielt, antwortete ich, denn schließlich kannte ich in Bremen sonst keine Sehenswürdigkeiten: „Zum Spar-Markt in der Gastfeldstraße.“ — „Die ist aber in der anderen Richtung.“ — „Wir wollen ja auch vorher was von der Stadt sehen.“ So stand immerhin schon mal unser Ziel fest.
Irgendwann durften wir dann doch weiterfahren. Für Bremen galt an jenem Abend offenbar eine spezielle Auslegung von § 27 StVO: wir fahren zu zweit nebeneinander, aber nicht geschlossen über rote Ampeln. Und damit das auch wirklich klappt, wurden wir in der folgenden halben Stunde von der Polizei begleitet. Und das war vielleicht eine öde Fahrt: der Gesetzgeber hat sich schon etwas dabei gedacht, den Fahrradfahrern ab einer bestimmten Menge die Fahrt als Verband zu ermöglichen und auch geschlossen weiterzuradeln, wenn zwischendurch eine Ampel auf rot umschaltet. So quälten wir uns allerdings teilweise Teilnehmer für Teilnehmer über die Kreuzungen, mit eben jenem Ergebnis, dass ein Teil vor dem Streifenwagen an der Haltlinie stand, ein anderer Teil wiederum auf der gegenüberliegenden Seite wartend die Fahrbahn blockieren musste, denn selbst wenn wir hintereinander mit einem Fuß auf dem Bordstein warteten, war für gefahrloses Vorbeifahren anderer Verkehrsteilnehmer gar kein Platz mehr. Unsere Durchschnittsgeschwindigkeit sank ebenso wie die Laune der Beamten.
Nach einer Weile verging dem Streifenwagen dann wohl doch die Lust, nachdem wir uns tatsächlich der Bremer Neustadt näherten, und er bog einfach ab. So radelten wir ohne Polizeibegleitung und von anderen Streifenwagen unbehelligt weiter. Ein kurzes Bike-Up vor dem Spar-Markt, dann ging’s weiter, immer noch wie vorgeschrieben zu zweit nebeneinander und nie über eine rote Ampel.
Nach knapp zwei Stunden rollten wir wieder über den Bahnhofsvorplatz, inzwischen noch mit gerade so 16 Teilnehmern, denn einige hatten uns zwischendurch verlassen, andere Bremer Radfahrer fuhren spontan mit. Vielleicht klappt’s ja im August dann auch aus eigener Kraft mit mehr als 15 Fahrradfahrern. Bremen ist übrigens eine schöne Stadt und die Weser bei Sonnenuntergang der Hammer!
Und zum Abschluss ein paar nette Wörter über die Polizei: die Sache hätte auch anders ausgehen können — die Beamten hätten uns auch die Weiterfahrt untersagen oder einen Richter entscheiden lassen können, ob er unseren Ausflug bezüglich der roten Ampeln als Verbandsfahrt anerkennen möchte. Man sollte dann doch anerkennen, dass die Beamten durchaus auf ihr Angebot gedrängt haben, uns im Endeffekt doch unbehelligt weiterfahren zu lassen und, auch wenn wir uns nicht immer einig waren, unser Vorhaben grundsätzlich respektiert haben.
Mehr dazu bei der Critical Mass Bremen.