Mobilitätswandel vs. Verkehrsinfarkt

„Wenn Stern-Autor Wolfgang Röhl sich so ärgert, müssen wir etwas richtig gemacht haben“ — das wusste schon Stefan Niggemeier vor vier Jahren.

Insofern könnte man die ganze Sache an dieser Stelle beenden und feststellen: Wolfgang Röhl hat sich über die Critical Mass geärgert. Bitte fahren Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.

Blöd nur, dass sich nunmal irgendjemand mit so etwas auseinandersetzen muss.

Auf der Achse des Guten schreibt er:
„Critical Mass“: Verkehrsinfarkt als Massenspaß

Das Problem an der Sache ist, dass es Röhl gar nicht um eine argumentative Auseinandersetzung mit dem Phänomen Critical Mass geht, geschweigedenn dass sich Röhl mit überhaupt irgendetwas argumentativ auseinanderlassen will. Vielleicht hat er im gemütlichen Ohrensessel sitzen im Fernsehen beobachten müssen, dass sich ein paar tausend Radfahrer durch Hamburg schoben, vielleicht stand er tatsächlich eine Weile an einer Kreuzung, während ein Radfahrer nach dem anderen querte, vielleicht bezieht Röhl seine Expertise auch nur daraus, dass er jemanden kennt, der jemanden kennt, der schon mal einen Radfahrer gesehen hat.

Vielleicht ist „Hass gegenüber Andersdenkenden“ doch der falsche Begriff, für das, was Röhl aus der virtuellen Feder floss, denn das eigentliche „Critical Mass“-Thema ist für ihn nur der Ausgangspunkt für eine Generalabrechnung mit nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmern, mit Sozialdemokraten und Grünen, mit allem, was in der heilen AchGut-Welt nicht sein kann weil es nicht sein darf.

Nur ist auch diese Generalabrechnung keine Generalabrechnung, denn Röhl rechnet nicht ab — genaugenommen beschränkt er sich darauf, seine Geringschätzigkeit gegenüber anderen Menschen in seiner Fähigkeit zu fantasievollen Wortspielen zu kanalisieren: So viele Synonyme für den Begriff „Radfahrer“ kennt nicht mal der Duden Band 8. Absatz für Absatz quält er sich durch sein Pamphlet, schreibt viel, sagt wenig, beleidigt ungefähr jeden Menschen, der schon mal mit dem Rad gefahren ist.

Der Leser, sofern er bis zum Ende durchhält, lernt daraus: Nichts. Gehört er zum Stammpublikum der Achse des Guten, so wird er vielleicht mit einem anerkennenden Nicken die Seite schließen, „Recht hat er, der Wolfgang Röhl, man sollte Radfahren verbieten!“ Alle anderen fragen sich womöglich, unter welch schweren Bedingungen dieser Text entstanden sein muss, der vor Hass nur so trieft, dass man nach fast zwanzig Absätzen nichts gelernt hat außer Dutzenden neuer Schimpfwörter.

Obwohl — es gibt vielleicht doch eine Konstante in Wolfgang Röhls Welt: Den Ökofanatiker. Der taucht überall im Text wieder auf, auch wenn Röhl in nur unscharf umschreibt. Der Ökofanatiker wird allerdings vom Staat aus den Steuergeldern der arbeitenden Bevölkerung bezahlt, um wiederum der Hand, die ihn füttert, eine Öko-Diktatur aufzuknechten.

Leider bleibt unklar, wen Röhl zu diesen Öko-Fanatikern zählt. Okay, Radfahrer zählen dazu, das war nicht schwer zu erraten, aber vermutlich ist die Definitionsmenge derart weit gefächert, dass in jedem Mülltrennung praktizierenden Bürger irgendwo auch ein Öko-Fanatiker schlummert.

Und in Röhls Seele scheint eine gewisse Angst innezuwohnen, dass diese Öko-Schläfer eines Tages aufwachen und die Weltherrschaft an sich reißen könnten.

Gift in Hamburgs Venen

Wolfgang Röhl verunglückt mit seiner Argumentation schon gleich im ersten Satz des ersten Absatzes:

Jeden Freitagnachmittag ist Schicht auf Hamburgs Straßen. Hundertausende Arbeitnehmer strömen ins Wochenende, viele von ihnen nach außerhalb.

Genau: Es ist Schicht auf Hamburgs Straßen. Nichts geht mehr. Auf der Google-Maps-Verkehrskarte färbt sich die Innenstadt dunkelrot, als ob die Venen dieser pulsierenden Stadt auf einmal verstopfen. Kraftfahrer stehen sich an den Kreuzungen gegenseitig im Weg, mit ständigen Spurwechseln wird der Verkehrsfluss stellenweise zum Erliegen gebracht.

Man darf bezweifeln, dass Röhl das wirklich gemeint hat — er wollte vermutlich eher darauf hinaus, dass in Hamburgs Betrieben Schicht ist und alle in den wohlverdienten Feierabend starten. Namentlich wollen nach Hause:

Darunter 320.000 sogenannte Einpendler (arbeiten in der Stadt, wohnen im Umland) und 100.000 Auspendler (andersherum). Ferner sind da Zehntausende Handwerker/Lieferanten/Monteure aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, ohne die der Wirtschaftsmotor der Boomstadt nicht derart brummen würde. Auch sie wollen am Freitagnachmittag nur eines: so schnell wie möglich heim zu ihren Familien.

Man mag sich an dieser Stelle wundern, ob auch Eingeborene in ihrer eigenen Stadt arbeiten und etwas zu deren prosperierenden Wirtschaftsleistung beitragen. Da es bei Röhl dieses Mal aber zwischen den Konflikt zwischen Kraft- und Radfahrern geht, pardon, es dieses Mal um feindliche Übergriffe der Radfahrer in das Hoheitsgebiet des Kraftverkehrs geht, lässt er die Menschen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder gar mit dem Rad zur Arbeit pendeln, erst einmal unerwähnt.

Doch so einfach läuft das nicht. Nicht an jedem letzten Freitag im Monat. Dann schlägt die Verkehrsguerilla zu. Radler, die clever ausgeheckt haben, wie man durch massenhaftes Blockieren bestimmter Knotenpunkte den Berufsverkehr weiträumig zusammenbrechen lassen kann. Die Aktion nennt sich „Critical Mass“ und beruft sich auf Paragraf 27 der Straßenverkehrsordnung, wonach mehr als 15 Radler eine Straße „als Verband“ nutzen dürfen.

Schon hier geht der Unfug los: Die Teilnehmer der Critical Mass treffen sich in Hamburg ab 19 Uhr, quatschen sich erstmal am Treffpunkt fest, vor 19.30 Uhr steigt da selten jemand auf den Sattel. Um 19.30 Uhr ist aber der Berufsverkehr schon lange durch, der spielt sich montags bis donnerstags zwischen 16 und 18 Uhr ab, freitags jeweils eine gute Stunde früher — schließlich will jeder pünktlich mit seiner Familie ins Wochenende starten. Dieses Drama, was Röhl vorhin noch als „Schicht auf Hamburgs Straßen“ verklärte, kann jeder durchs Fenster beobachten. Oder, wenn man wie Röhl außerhalb der Großstadt residiert, auf der Google-Maps-Verkehrskarte nachvollziehen. Oder, wenn man mit dem Computer noch nicht so gut umgehen kann, im Verkehrsfunk.

Man kann der Critical Mass vieles vorwerfen, aber das vorsätzliche Blockieren des Berufsverkehrs gehört sicherlich nicht dazu. Ginge es darum, wäre längst jemand auf die Idee gekommen, nicht um 19 Uhr, sondern um 16 Uhr eine kilometerlange Schlange von Fahrrädern durch die Stadt zu lenken. Klar, Forderungen in diese Richtung gab es häufiger, tatsächlich primär aus der linksgrün-versifften Ecke, aber, mal ganz pragmatisch betrachtet, wo bliebe denn da der Spaß? Schließlich geht’s bei der Critical Mass doch irgendwie noch ums Radfahren und nicht um eine Stehparty zwischen wirtschaftsbrummenden Motoren.

Auch wenn Röhl es nicht wahrhaben will: Hamburg erstickt nicht im Stau, weil einmal im Monat, also zwölf Mal im Jahr, deutlich nach dem Berufsverkehr ein paar hundert oder tausend Radlinge hinter- und nebeneinander durch die Stadt fahren, diese Stadt erstickt bereits ein paar Stunden früher im alltäglichen Berufsverkehr. Eine Critical Mass um 16 Uhr wäre relativ witzlos: Wenn überhaupt käme man gerade so bis zur nächsten Kreuzung und stünde dann einträchtig mit dem Kraftverkehr im Stau.

Mit dem Fahrrad hat man in dieser Situation allerdings einen ganz gemeinen Vorteil: Man kommt meistens doch noch irgendwie pünktlich nach Hause.

Die Polizei bestreitet das, weil in diesem Fall immer nur jeweils zwei Radler nebeneinander fahren dürften. Bei der „Critical Mass“ okkupieren Radler jedoch die gesamte Fahrbahnbreite, damit Autofahrer keine Chance haben, den Staukolonnen zu entkommen.

Es lässt sich schlecht leugnen, dass bei Critical-Mass-Touren ab einer bestimmten Teilnehmerzahl meistens die komplette Richtungsfahrbahn in Anspruch genommen wird — ein glatter Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung. Es gibt in dieser Situation eigentlich zwei Alternativen: Die Critical Mass einfach bleiben lassen und zu Hause politische Gespräche in der veganen WG-Küche führen oder was man als Radfahrer sonst noch so treibt, wenn man nicht gerade Kraftfahrer malträtiert.

Oder hintereinander fahren. Rechnet man mit zweieinhalb Metern pro Fahrrad, ergäbe das theoretisch bei sechstausend Teilnehmern eine Schlange von 7,5 Kilometern. Praktisch dürften es mehr als zwanzig Kilometer werden, gelten doch bei Fahrrädern die selben fahrdynamischen Gesetze wie beim Kraftverkehr: Bereits minimale Geschwindigkeitsveränderungen sorgen für Störungen im Verkehrsfluss, die sich schließlich in immer größeren Lücken manifestieren. Statt zweieinhalb beansprucht ein Fahrrad dann gleich zehn lockere Meter.

Wer hat uns verraten?

Obwohl „Critical Mass“ offenbar rechtswidrig ist, werden die Blockierer von der Polizei geduldet, sogar von Motorradpolizisten eskortiert. So will es die Politik, heißt hier: die rot-grüne Koalition des Stadtstaates.

Aus juristischer Sicht ist der Verstoß gegen die Nur-zwei-Räder-Regelung aus § 27 Abs. 1 S. 3 StVO vermutlich das geringste Problem. Auf die Idee, dass jeden letzten Freitag im Monat eine nicht angemeldete Versammlung abgehalten wird, die teilweise bereits die Voraussetzungen einer Demonstration erfüllt, ist Röhl — zum Glück? — nicht gekommen. Dabei wäre das der richtige Angriffsvektor, wollte man gegen die Critical Mass angehen. Das Argument, dass hier aber mehr als zwei Radfahrer nebeneinander führen, ist dagegen quasi schon lächerlich, um nicht zu sagen: Freut euch doch mal! Man stelle sich vor, wie es tatsächlich um den Straßenverkehr in Hamburg bestellt wäre, wenn sechstausend Radfahrer brav zu zweit nebeneinander führen: Man könnte glatt den kompletten Ring 2 von Altona bis Moorfleet in Beschlag nehmen und die Innenstadt hermetischer Abriegeln als die Polizei beim G20-Gipfel in Hamburg.

Andererseits: Hat sich die SPD ihr politisches Profil mittlerweile derart merkelisiert, dass sie den einfachen Arbeiter nicht mehr vertritt? Wäre ja total lustig, wenn die Sozialdemokraten eine Fahrradtour befürworteten, bei der ihre eigene Klientel im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleibt, beziehungsweise im Schneckentempo hinterherkriechen darf. Der Senat hat sich Anfang Juni 2015 nach einer schriftlichen kleinen Anfrage des CDU-Abgeordneten Joachim Lenders dazu geäußert:

Offenbar behandeln die zuständigen Behörden die Critical Mass Hamburg relativ kulant als nicht angemeldete Versammlung. Doch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wiege nach Meinung der Polizei und des Hamburger Senates so schwer, dass sich die Beamten auf die Begleitung und Absicherung der Tour beschränken, anstatt sich auf ein Katz-und-Maus-Spiel mit mehreren tausend Radfahrern einzulassen. Man mag zwölf nicht angemeldete Radtouren pro Jahr als Untergang der westlichen Zivilisation ansehen — oder aber die Sache aus dem kühlen hanseatischen Blickwinkel betrachten:

Nach Auffassung der zuständigen Behörde besteht kein gesetzgeberisch begründbarer Handlungsbedarf.

Von Klima-Apokalyptikern und Fahrradterroristen

Wolfgang Röhl ist mir um einiges vorraus: Ich kenne nicht einmal ein Synonym für das Wort „Synonym“ und muss seinen Kram ständig im Duden nachschlagen. Röhl greift hingegen auf eine prall gefüllte Schatzkiste seltsamer Begriffe zurück, um aber auch jeden Typus von Radfahrern zu diskreditieren. Aus dieser Kiste zitiert er in den nächsten fünf Absätzen ganz ausführlich und wie das bei alten Schatzkisten so ist, bleibt bei jedem Griff ein bisschen Dreck hängen.

Herrje, der Text trieft geradezu vor Verabscheuung jeglicher Andersdenkenden — Röhl muss in seinem Leben wirklich schlimmes mit Radfahrern widerfahren sein.

Ökosinnige Schüler, Studis und Lehrkräfte sind ebenso dabei wie die in Hamburg zahlreichen, meist auf irgendeine Weise per Staatsknete alimentierten Umweltapostel, Atomkraftgegner, Wind- und Solarkraftenthusiasten, Fracking-Feinde, Klima-Apokalyptiker.

Klar, allesamt Nichtsnutze, die noch nichts im Leben erreicht haben und keinen Beitrag zum brummenden Wirtschaftsmotor der Hansestadt Hamburg leisten.

Hardcore-Pedaltreter nähmen an der Critical Mass teil, darunter auch Liegeradler, die per Definition suizidale Zeitgenossen seien. Radkuriere stellen sich für Röhl als Ausgeburt des Teufels dar, die nur zu Verkehrsrowdytum, pöbelhaftem Gebölk und physischer Gewaltigkeit neigten. Wieder andere zählt Röhl zu den Critical-Mass-Guerilleros, die einer Fraktion der CO2-Vermeidungsfanatiker angehörten, deren eigentlicher Lebenszweck das Terrorisieren anderer Verkehrsteilnehmer darstelle.

Ich weiß nicht, wie man sich sachlich durch diese fünf Absätze arbeiten soll, wenn schon bei Röhl die Sachlichkeit einer derart ausgeprägten Geringschätzigkeit anderer Lebensstile gewichen ist. Röhl geht es anscheinend lediglich darum, endlich einmal Frust abzulassen und Menschen, die sich nicht mit dem Auto fortbewegen, als vollkommen verblödet und bescheuert darzustellen.

Furchtbare Dinge müssen sich am letzten Freitag im Monat in Hamburg abspielen! Autos werden als Barrikaden auf den Verkehrsmagistralen der Stadt in Brand gesetzt, bügelschlossschwingende Radkuriere entfernen Außenspiegel, Liegeradler zerren Lastkraftwagen-Fahrer aus den Führerhäusern, um sie anschließend als Mahnung an besonders gefährlichen Kreuzungen an die Ampel zu knüpfen.

Und sonst so?

Malochende Gutmenschen on Tour

Freilich, ein guter Teil des Mobs besteht aus gänzlich unpolitischen Gestalten. Sie genießen es schlichten Gemüts, in der Masse mit zu schwimmen, dabei schicke Räder, scheußliche Radlerklamotten und – manchmal – durchtrainierte Körper auszustellen. Sie haben gewöhnlich viel Freizeit und sind immer auf der Suche nach einem Thrill. Vielen genügt es schon, in den öffentlichen Verkehr einzugreifen, ohne Strafe fürchten zu müssen. Dieser Menschenschlag firmiert im Polizeijargon unter „erlebnisorientiert“.

Freilich, ein guter Teil des Mobs besteht aus gänzlich normalen Menschen. Das darf auch ein Wolfgang Röhl einfach mal so anerkennen, ohne sich gleich despektierlich zu äußern.

Insbesondere die Hamburger Critical-Mass-Touren sind hinreichend ausführlich mit Fotos dokumentiert, auf denen man in der Regel vollkommen langweilige Menschen erkennt. Die meisten tragen noch nicht einmal scheußliche Radlerklammotten und hocken auf Rädern, die genauso spießig-langweilig sind wie ihre Fahrer. Das Teilnehmerfeld der Critical Mass rekrutiert sich aus einem bunten Querschnitt der Bevölkerung, quer durch alle Altersschichten, quer durch alle Berufsfelder.

Darunter dürften auch Menschen sein, die artig ihre Steuern zahlen und abseits der Critical Mass einer geregelten Tätigkeit nachgehen. Dass Röhl sie ebenfalls mit seinem Zorn verunglimpft, dürfte er wohl als Kollateralschaden betrachten. Selbst schuld, wer sich mit diesen Radfahrern einlässt.

Auf der Facebook-Seite von „Critical Mass“ Hamburg begeisterte sich ein beispielhaftes Mitglied dieser Spezies namens Sven-Olaf N. wie folgt: „Hallo, war super, das erste Mal mit Töchterchen. Da wir von auswärts sind und das Auto am Startpunkt abgestellt hatten, waren es nachher 44 km bis wir wieder am Auto waren. Aber die Kleine hat sich tapfer gehalten. Wir kommen wieder.“

Man muss schon eine ganze Weile scrollen und suchen, bis man den zitierten Beitrag an der Veranstaltungsseite der Critical Mass vom Mai 2016 findet. Das gibt gleich wieder Anlass zu Rätseleien: Hat Röhl den Beitrag auf Halde produziert und erst im Spätsommer veröffentlicht? Oder war eine passende Einlassung eines Teilnehmers, die in das gutachsige Weltbild passt, erst nach längerer Suche aufzutreiben?

(Spezies? Im Ernst? Geht’s in dem ganzen Beitrag eigentlich nur um Phrasendrescherei oder um die Auseinandersetzung mit einem Thema?)

Lies: Wir sind aus unserem Kuhdorf, wo nie was los ist, mit dem Auto gen HH gebrettert. Dort die Räder von Wagendach geholt, aufgesessen und Malocher genervt. Dann mit der Stinkekarre wieder heim in unser Kaff und vor den Fernseher. In der Hoffnung, uns bei einem – selbstredend sympathisierenden – NDR-Fernsehbericht über die „Critical Mass“ betrachten zu dürfen. So macht Umweltschutz Spaß!

Sven-Olaf hat sein facebook-Profil recht privat gehalten, insofern erfährt man dort nicht viel über ihn. Eigentlich weiß man nur, dass er offenbar eine Tochter hat, vermutlich recht jung, mindestens einen Hund mit rotem Halstuch und dass er laut Profilangabe tatsächlich etwas weiter von Hamburg entfernt wohnt.

Interessant wird es, wenn man einfach mal das tut, was Wolfgang Röhl vor blinder Wut glatt unterlassen hat: Recherche betreiben. Man braucht etwa fünfzehn Sekunden um herauszubekommen, dass Sven-Olaf ungefähr so gar nicht in das Feindschema passt, das Röhl Satz für Satz in seiner Fatwa aufbauen möchte. Er ist nicht arbeitslos, sondern bekleidet eine leitende Position in einer größeren Firma in einem Hamburger Vorort, ironischerweise in einer Branche, in dem der Begriff „Maloche“ tatsächlich bis heute überdauert hat.

Man kann, ohne Sven-Olaf genauer zu kennen, allein aufgrund dieser Handvoll Informationen getrost davon ausgehen, dass er alles andere als ein erlebnisorientierter, linksgrün-versiffter Gutmensch ist: Das hätte Röhl schon daran erkennen können, dass der Typ mit dem Auto zur Masse gefahren ist, anstatt das Töchterchen ins Lastenrad und das Lastenrad in die Bahn zu verfrachten, um dort sein Gutmenschentum gegenüber den übrigen Fahrgästen zu präsentieren. Ja, man muss sogar vermuten, dass Sven-Olaf mit ebenjenem Auto oft genug Teil des Staus ist, an dessen Ursachen sich Röhl seit einigen Absätzen entlanghangeln möchte.

Es ist ja schon fast traurig: Tapfer kämmt sich Röhl durch die Critical-Mass-Hamburg-Seite auf facebook, um mit einem exemplarischen Beitrag die Kampfradler der Critical Mass zu diskreditieren, und dann erwischt er ausgerechnet einen langweiligen Teilnehmer der arbeitenden Bevölkerung.

Macht nichts: Kollateralschaden.

Blablablablabla

„Critical Mass“ wurde in San Francisco erfunden, wo auch sonst.

„Wo auch sonst“ ist aber eine interessante Frage. San Francisco mag zwar eine Stadt voller nutzloser Hippies mit Blumenkränzen im Haar sein, aber auch eine Stadt voller Hügel und mit einer eher überschaubaren Fahrradkultur. Der unbedarfte Leser hätte doch glatt vermutet, die Critical Mass müsse in einer Berliner Hipster-Keimzelle entstanden sein, als Außenspiegel-abschlagende Fahrradkuriere eines Freitagabends Langeweile schoben.

Die mit der Mob-Aktion ebenfalls sympathisierende deutsche Wikipedia schreibt dazu: „Critical Mass ist eine weltweite Bewegung in Form der direkten Aktion, bei der sich mehrere nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer scheinbar zufällig und unorganisiert treffen, um mit gemeinsamen und unhierarchischen Fahrten durch Innenstädte (…) auf den Radverkehr als Form des Individualverkehrs aufmerksam zu machen. (…) Darüber hinaus geht es der CM-Bewegung laut ‚Die Zeit‘ auch um ‚…die Frage, ob öffentlicher Raum nicht dem Verkehr entzogen und ganz anders genutzt werden sollte.'“

Ein Lexikon, das mit einer Mob-Aktion sympathisiert — das gibt’s auch nur bei der Achse des Guten. Wie hätte sich Röhl den Artikel vorgestellt? Hier und da noch ein paar Hasstiraden auf übergewichtige Radfahrer, die ihre wanstigen Leiber in enge Funktionskleidung zwängen, um dann wie eine Dampflok schnaufend in einer marodierenden Gruppe durch die Stadt zu fahren? Vielleicht noch ein paar Witze bezüglich Fahrradsätteln und Zeugungsunfähigkeit? Oder ist der Lexikoneintrag in Ermangelung abwechslungsreicher Schimpfwörter, Pardon, Synonyme für den Begriff „Radfahrer“ nicht unterhaltsam genug?

Dieses Zitat aus der deutschen Wikipedia wäre doch eigentlich Gelegenheit genug für Röhl, die Critical Mass endlich einmal argumentativ einzuordnen und sich dem Phänomen mit journalistischem Anspruch zu nähern.

Das lässt er leider lieber bleiben.

„Wir sind hier, wir sind laut“

Stattdessen wundert er sich:

Was treibt die Radler auf die Straße? Ist Hamburg ein radlerfeindliches Pflaster, wo Drahteselreiter drangsaliert und ausgegrenzt werden? Mitnichten. Hamburg hat das vergleichsweise längste Radwegenetz der Republik, sage und schreibe 560 Kilometer lang. Selbst der Radfahrerverein ADFC lobt: „Das Radverkehrsnetz der Stadt verbindet alle Wohngebiete und wichtigen Zielorte ohne Umwege. Die Strecken sind angenehm, sicher und zügig zu befahren.“

Halt, stop! Der ADFC lobt das hanseatische Rumpelradwegnetz? Das scheint nun aller guter Fortschritte der letzten Jahre zum Trotz etwas unwahrscheinlich. Tatsächlich hat Röhl das Lob im Leitbild des ADFC Hamburg aufgetrieben. Ein Leitbild ist aber kein Abbild der momentanen Zustände, nein, es zeigt an, wohin die Reise nach Meinung des ADFC irgendwann einmal gehen soll. Vielleicht hätte der ADFC seine Wünsche im Konjunktiv II formulieren können, um Missverständnisse zu vermeiden. Wikipedia, aus der Röhl so gerne zitiert, weiß dazu:

Ein Leitbild ist eine schriftliche Erklärung einer Organisation über ihr Selbstverständnis und ihre Grundprinzipien. Es formuliert einen Zielzustand (Realistisches Idealbild). Nach innen soll ein Leitbild Orientierung geben und somit handlungsleitend und motivierend für die Organisation als Ganzes sowie auf die einzelnen Mitglieder wirken. Nach außen (Öffentlichkeit, Kunden) soll es deutlich machen, wofür eine Organisation steht. Es ist eine Basis für die Corporate Identity einer Organisation. Ein Leitbild beschreibt die Mission und Vision einer Organisation sowie die angestrebte Organisationskultur. Es ist Teil des normativen Managements und bildet den Rahmen für Strategien, Ziele und operatives Handeln.

Röhl verkennt allerdings, dass ein großes Radwegenetz, mag es auch das größte der Republik sein, nicht automatisch für ein angenehmes Verkehrsklima sorgt. Beim Fahrradklima-Test 2014 landete Hamburg in seiner Kategoie auf Platz 35 von 39. Der ADFC vermutete daraufhin:

Wäre das Verkehrsklima in Hamburg nicht so aggressiv und vom Kfz-Verkehr dominiert, würden wesentlich mehr Menschen aufs Rad umsteigen.

Womöglich ist das eine der Ursachen, warum sich eine Critical Mass auf der Straße bildet: „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Straße klaut!“

Wort- und Zahlenspiele

Röhl rechnet weiter:

Die Hansestadt pumpt jedes Jahr Millionen in Erhalt und Neubau von Radwegen. Vielerorts wird den Autofahrern Straßenraum weggenommen, werden darauf Radwege eingerichtet. Das Fahrradleihsystem „Stadrad“ ist mittlerweile auf mehr als 170 Stationen angeschwollen und verschlingt viel öffentliches Geld. Es stimmt zwar, dass der eine oder andere Radweg in keinem guten Zustand ist. Aber das gilt genauso für viele Autostraßen der Hansestadt.

Dass „der eine oder andere Radweg in keinem guten Zustand ist“, dürfte noch als glatte Untertreibung durchgehen. Selbst an Hauptverkehrsstraßen, deren Fahrbahnen vor kurzem saniert wurden, blieben die rumpeligen Hochbord-Radwege meistens unangetastet und gammeln weiter vor sich hin. Selbst neu angelegte Radverkehrsanlagen genügen in der Hansestadt häufig noch nicht einmal den Mindestmaßen aus den einschlägigen Verwaltungsvorschriften. Klar, auch die Fahrbahnen sind nicht immer im allerbesten Zustand, insbesondere ältere Wohngebiete sind häufig noch mit rumpeligen Kopfsteinpflaster ausgekleidet, auf dem es sich weder mit zwei noch mit vier Rädern besonders gut fahren lässt. Und? Ist das ein Grund, teilweise backblechgroße Schlaglöcher und ähnliche Schäden an Radwegen klaglos hinzunehmen?

50 Kilometer Radwege pro Jahr will Hamburg pro Jahr ausbauen — rein rechnerisch hätte man dann in knapp elf Jahren das komplette Radwegenetz erneuert. Zu den Maßnahmen zählt unter anderem die Verbreiterung (!) der Radwege auf anderthalb Meter Breite — dem Mindestmaß für innerörtliche Einrichtungsradwege aus den Verwaltungsvorschriften. Wie viele Millionen die Hansestadt tatsächlich in die Baumaßnahmen pumpt lässt sich hingegen nicht so einfach ermitteln. Der Umbau des Leinpfads zur Fahrradstraße wird beispielsweise aus den Mitteln des Radverkehrs finanziert — der Löwenanteil der Kosten geht allerdings für die längst erforderliche Fahrbahnsanierung drauf, von der auch der Kraftverkehr profitiert.

Bei der Hamburger Osterstraße weiß man auch nicht so genau, aus welchem Topf die Sanierung bezahlt wurde — für den Radverkehr blieben allerdings nur zwei Streifchen links und rechts der Fahrbahn übrig.

Andererseits ist das auch schon fast egal, denn selbst ein Meter ordentlich gebauter Radweg, der sich nicht nach fünf Jahren über den Baumwurzeln wellt, ist gegenüber einem Meter Fahrbahn so unschlagbar günstig, dass Röhl hier wirklich auf ganz hohem Niveau die Millionen für den Radverkehr beklagt.

Und das Stadtrad-Leihsystem? Das kostete der Stadt Hamburg im vergangenen Jahr knapp zwei Millionen Euro. Eigenlich auch ein absolut unschlagbarer Preis für knapp 200 Stationen mit insgesamt etwa zweieinhalbtausend Leihrädern und etwa zweieinhalb Millionen Fahrten, so dass die Formulierung „verschlingt viel öffentliches Geld“ eigentlich unangebracht ist. Als wirtschaftlich denkender Mann mag Röhl zunächst an den Return of Investment bei solchen Zahlenspielchen denken, aber auch das Leihradsystem dürfte sein Geld wert sein. Die zweieinhalb Millionen Fahrten wären ohne Leihrad vermutlich auf eine andere Weise zustande gekommen, etwa mit dem öffentlichen Nahverkehr oder dem eigenen Auto — und für beides stellt der Staat ebenfalls für viel öffentliches Geld eine Infrastruktur, die vor- und unterhalten werden muss.

Milchmädchenrechnungen

Der wahre Treiber für „Critical Mass“ ist die grundsätzliche Aversion des Grünmenschen gegen das Kraftfahrzeug per se. Träume von der „autofreien Stadt“, in der Menschen sich allein per Beinkraft oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen, die Steuerquellen dennoch sprudeln wie isländische Geysire, sind so alt wie der Ökofimmel eines wohlhabenden Teils der Hamburger. Die Grünen holten bei den letzten Wahlen 14,7 Prozent und bekleiden in Gestalt eines ulkigen Milchmädchens den gutdotierten Posten des zweiten Bürgermeisters.

Herrje, es fällt tatsächlich zunehmend schwer, sich mit einem Text auseinanderzusetzen, der sich dermaßen mit Respektlosigkeiten gegegenüber anderen Menschen aufhält. Schreib doch mal was gehaltvolles auf, Wolfgang, anstatt zu demonstrieren, dass du prima mit Worten spielen kannst und deinen Kritikern intelektuell deutlich überlegen bist.

Der Röhl hat sich die Hasskappe dermaßen tief ins Gesicht gezogen, dass er gar seinen roten Faden aus dem Blick verliert. Vorhin musste Sven-Olaf pars-par-toto als Beispiel für einen verlogenen Gutmenschen herhalten, der mit dem Auto seine Tochter zur Critical Mass chauffiert, und nun soll Sven-Olaf auch noch dermaßen verlogen sein, bei der Critical Mass seinen Hass gegen sein eigenes Auto auszuleben? Das passt doch vorne und hinten alles nicht.

Schaut man sich ein bisschen im Critical-Mass-Umfeld um, so sind da tatsächlich eine oder zwei Hände voll Menschen anzutreffen, die sich die autofreie Stadt am liebsten holterdipolter jetzt sofort herbeiwünschen. Dem Großteil der Teilnehmer geht Radverkehrspoltik oder die autofreie Stadt dermaßen am Arsch vorbei, dass eine angekündige Groß-Demo zu Tempo 30 auf der Max-Brauer-Allee zu einem bummeligen Spaziergang mit knapp fünfzig Demonstraten verkam.

Wie rar grünmenschliche Aversionen gegen Kraftfahrzeuge gesät sind, musste ich im April dieses Jahres selbst erfahren, als ich nach dem Vorbild des Berliner Radentscheides eine ähnliche Fahrrad-Initiative in Hamburg anschieben wollte. Ich bekam mit Müh und Not sieben interessierte Radfahrer zusammen, so dass die Idee quasi direkt nach der Startlinie verunglückte. Wären Röhls Befürchtungen ernstzunehmen, hätte ich mich plötzlich an der Spitze eines demonstrierenden Fahrrad-Mobs vorgefunden, der das motorisierte Zeitalter zu Grabe trägt.

Stattdessen begnügt sich der Kampfgeist der Hamburger Radfahrer mit einer größeren Radtour zum Monatsende. Ich finde, da kann man sich als Kraftfahrer kaum beschweren.

Folgerichtig laufen alle Rechnungen dieser Szene seit langem darauf hinaus, möglichst viele neue Tempo 30-Zonen zu schaffen, um das Autofahren zu Qual zu machen. ADFC und Grüne fordern gar Tempo 30 für den gesamten Stadtstaat, der immerhin 755 Quadratkilometer umfaßt. Das wäre ein hübscher Schritt auf dem Weg zur ersehnten De-Industrialisierung der Hansestadt und zu ihrer Transformation in eine Großbaustelle für grüne Wolkenkuckucksheimprojekte.

Mein Gott, „diese Szene“ ist zahlenmäßig äußerst überschaubar und überschneidet sich kaum mit dem Teilnehmerfeld der Critical Mass. Natürlich mischt der Hamburger ADFC mit seiner Läuft-Kampagne mit, berührt Sicherheit im Straßenverkehr nunmal eines seiner Kernthemen, doch habe ich den Eindruck, dass sich primär Anwohner für das Thema interessieren, die sich nach weniger Straßenverkehr vor der Haustür sehnen.

Und es geht grundsätzlich nicht darum, Autofahren zur Qual zu machen oder Kraftfahrer wieder als Melkkuh der Nation zu missbrauchen, nein, es geht um die ganz grundsätzliche Frage, ob die moderne Stadt ein Lebensraum für ihre Einwohner oder eine Betonpiste für das Automobil sein soll. Die Diskussion um Tempo 30 überstreicht eine ganze Bandbreite an Themen, von Luftqualität über Verkehrslärm bis hin zur Aufenthaltsqualität entlang großer Hauptstraßen.

Und Röhl sollte wenigstens so ehrlich sein, dass weder der ADFC noch die Grünen ein generelles Tempo 30 im gesamten Hamburger Verkehrsnetz fordern, sondern allenfalls einzelne Mitglieder des ADFCs oder der Grünen diesen Wunsch geäußert haben. Niemand hat momentan ernsthaft vor, auf der Kieler Straße oder der Wandsbeker Chaussee Tempo 30 einzuführen, niemand verlangt, dass auf Hamburger Autobahnen plötzlich Tempo 30 gilt. Es geht lediglich darum, auf bestimmten Strecken, beispielsweise in Wohn- oder Geschäftsviertel, die erlaubte Höchstgeschwindigkeit herabzusetzen, um etwa Sicherheit und Aufenthaltsqualität zu erhöhen.

Noch mehr Zahlenspiele

Dann hat Röhl vom Fahrradzähler erfahren, der seit anderthalb Jahren an der Alster an einer Straße steht, die passenderweise „An der Alster“ heißt, und auf einem Display anzeigt, wie viele Radlinge er heute schon gemessen hat:

Dass Radeln selbst in einer weitgehend platten Stadt wie Hamburg nicht viel mehr als eine saisonale Fortbewegungsform für fünf bis zehn Prozent zumeist jüngere, sportliche Leute ist, kann man recht gut an einem Fahrradzähler ablesen, der an der Hamburger Außenalster in Höhe der Gurlittinsel steht und die Steuerzahler 31.384 Euro gekostet hat.

Ja, dass das Ding 31.384,39 Euro gekostet hat, das musste auch der Bund der Steuerzahler mit Betroffenheit feststellen müssen. Darum geht’s Röhl aber gar nicht, der will nur wieder darauf hinaus, dass der Steuerzahler etwas finanzieren musste, was allenfalls dem Radverkehr nutzt. Wenn andere Argumente nicht mehr ziehen, dann muss eben der Steuerzahler herhalten. Und nicht nur das: Die 31.384,39 Euro wurden womöglich auch noch für Schrott aus dem Fenster geworfen:

Wobei man noch anmerken muss, dass der Zähler möglicherweise von Anbeginn defekt war, jedenfalls nach Berichten von aufmerksamen Radlern sowieso viel zu viel Radverkehr anzeigt.

Vermutlich spielt Röhl auf die Geschichte mit dem Hund an, der angeblich vom Fahrradzähler erfasst worden ist, woraus sich das Gerücht verbreitete, der Fahrradzähler zähle sogar tieffliegende Vögel oder gar herumwehende Blätter. Tatsächlich zählt der Zähler mittlerweile recht zuverlässig, aber langsam, was offenbar immer wieder zu Beobachtungen über vermeintlich gezählte Hunde führt: Der Kasten braucht einen Moment, bis er seine Anzeige aktualisiert. Und so trägt es sich dann zu, dass die Anzeige just in jenem Moment umspringt, in dem Fiffi die Säule passiert, der Zähler aber in Wirklichkeit den Radling registriert hat, der vor zwei Sekunden die Induktionsschleife überquert hat.

Selbst wenn man der Säule zugesteht, sich hin und wieder mal zu verzählen, was bei Dreirädern oder Fahrrädern mit Anhänger tatsächlich mal passieren kann, dürfte dort wohl kaum „viel zu viel Radverkehr“ gemessen werden. Der alsterseitige Radweg schlängelt sich mit knapp bemessenen zwei bis zweieinhalb Metern zwischen parkenden Kraftfahrzeugen und renitentem Straßenbegleitgrün hindurch. An einem warmen Sommermorgen ist er gar so überfüllt, dass es nur mit Schrittgeschwindigkeit vorangeht — und zum Überfluss darf dieser ohnehin recht kurvige Radweg in beide Richtungen befahren werden. Tatsächlich bündelte diese Strecke bis vor wenigen Jahren einen Großteil des Radverkehrs, der aus Norden und Nordosten in die Innenstadt rollte.

Nachdem Hamburg jedoch die Radverkehrsinfrastruktur in einigen Parallelstraßen ausbauen ließ — man kann ja nun nicht behaupten, dass sich in Hamburg radverkehrstechnisch nichts täte — verlagerte sich ein nicht unerheblicher Teil der Radverkehrsströme auf andere Korridore, beispielsweise auf die umstrittene Fahrradstraße im Harvestehuder Weg, die nach einigem politisch-ideologischem Hin und Her nun doch ganz gut angenommen wird.

Der Zähler zählt insofern nur einen Teil des Radverkehrs, der morgens in die Innenstadt drängt — und nur einen Bruchteil jener Radfahrer, die nach Feierabend wieder nach Hause wollen, weil die andere Straßenseite nicht mitgezählt wird. Eigentlich wäre das ein Angriffspunkt, wollte man die Zählsäule kritisieren.

Röhl liest aber an diesem Zähler ab, dass es sich beim Radfahren in Hamburg lediglich um eine „saisonale Fortbewegungsform“ handle, der Radverkehrsanteil irgendwo zwischen „fünf bis zehn Prozent“ herumbummle und Radfahren ohnehin nur etwas für „zumeist jüngere, sportliche Leute“ sei.

Fangen wir mal mit dem Radverkehrsanteil an. In den letzten Jahren nahm der Radverkehrsanteil eine gewisse Eigendynamik an und steigerte sich spürbar von Jahr zu Jahr — interessanterweise vollkommen losgelöst von freundlichen Wetterbedingungen im Sommer oder hohen Kraftstoffpreisen. Tatsächlich machte das Radfahren einen gewissen Imagewandel durch von einem knarzenden Fortbewegungsmittel für Studenten und Arbeitslose zu einem modernen Alltagsfahrzeug, das dank elektrischer Unterstützung plötzlich ganz neue Zielgruppen ansteuerte. Und ja, Radfahren ist mittlerweile so dermaßen hip und trendy, dass sich sogar Axel Springer genötigt sah, sich mit BIKE BILD ein Stück vom Kuchen zu sichern.

Der Urknall dieser Eigendynamik lässt sich irgendwo zwischen 2009 und 2011 verorten, als man auf dem Weg zur Arbeit plötzlich nicht mehr alleine an der roten Ampel wartete. Um mal eine kleine Hausnummer zu nennen: Im Jahr 2008 betrug der Radverkehrsanteil in Hamburg bereits zwölf Prozent, also ein bisschen mehr als die von Röhl geschätzten fünf bis zehn Prozent. Bis in die 2020er Jahre, ein trefflich unscharf umrissener Zeitraum, soll der Anteil gar auf 25 Prozent steigen.

Wohlgemerkt beziehen sich diese Zahlen auf das ganze Jahr, nicht nur auf einige ausgewählte Tage im Sommer, an denen es nicht regnete und der Kraftstoff ganz besonders teuer war. Insofern ist auch die Sache mit dem „saisonalen Fortbewegungsmittel“ nicht ganz richtig: Mag das Hamburger Schietwetter jeden Sommer vermiesen, sorgt es aber auch für relativ milde Winter. Glatteis gibt es allenfalls an einer Handvoll Nächten zu vermelden, Schnee sieht man gar noch seltener, und so richtig kalt, naja, doch, so richtig kalt wird’s schon hin und wieder mal.

Aber: Es wird irgendwie. Klar, keine Frage, im Winter, im Regen, da fahren deutlich weniger Radlinge umher als an einem lauen Sommertag. Aber: Es wird irgendwie. Auch im Winter wird in Hamburg seit einigen Jahren vermehrt aufs Rad gestiegen, obwohl es kalt ist, obwohl die Radinfrastruktur in der Regel nicht geräumt wird, obwohl sogar manchmal Schnee liegt. Und das sind keinesfalls nur die Vollprofis, die da mit Spikereifen wie auf Schienen ins Bureau rasseln, sondern auch ganz normale Menschen.

Und dann gibt’s eben diese paar Tage, an denen kaum jemand mit dem Rad unterwegs ist. Dieses Jahr im Januar zum Beispiel, als an einem Abend plötzlich fünf Zentimeter Schnee lagen und gar nichts mehr ging. Aber wirklich nichts mehr, weder auf dem Radweg noch auf der Fahrbahn. Ein Fahrrad mag bei Neuschnee lustig herumrutschen, aber es hat den unschlagbaren Vorteil, dass man notfalls absteigen und schieben kann. Aus dem Auto kann man zwar auch aussteigen, aber da wird’s mit dem Schieben schon schwieriger.

Dann noch zu der Nummer mit den jüngeren, sportlichen Leuten: Ja, es fahren tendenziell jüngere, sportlichere Leute mit dem Rad. Aber schaut man sich an, was sich da an Radfahrern auf Hamburgs Straßen tummelt, erhält man wie bei der Critical Mass einen bunten Querschnitt aus allen Bevölkerungs- und Altersschichten. Das berühmte Radfahren „trotz Radweg mitten auf der Straße“ mag nach wie vor die Domäne junger, sportlicher Männer sein, das Radfahren selbst ist hingegen längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Übrigens: Der Kraftverkehr wird im Hamburger Stadtgebiet permanent auf 30 Dauerzählstellen gemessen. Das macht man, um für die Zukunft planen zu können. Und aus dem gleichen Grunde misst man auch die Entwicklung des Radverkehrs: Damit man für die Zukunft planen kann.

Gräßliche graue Fakten

Die Vorstellung, ausgerechnet die Radelei stelle „den Verkehr“ in der Elbmetropole dar oder könne das irgendwann mal leisten, ist so herrlich einfältig, dass man besser nicht dran rührt. Ihre Träger sind vermutlich Menschen, denen die kleinprinzliche Kalenderweisheit „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ noch immer Tränen in die Augen zu treiben vermag. In diese rosarote Kinderwelt sollte man keinesfalls graue Fakten streuen.

Das Problem an solchen grauen Fakten ist, dass sie wirklich ganz schön grau sind. Nur: Wo sind sie denn, die grauen Fakten?

Es mag vielleicht ein paar Radfahrer geben, die in dieser rosaroten Kinderwelt leben und glauben, der Betrieb einer Großstadt ließe sich von heute auf morgen komplett ohne Kraftverkehr aufrecht erhalten, wenn man nur genügend Lastenräder zusammenschweißte, jajaja. Das mag in einer Lego-Kleinstadt funktionieren, wo drei Männchen ein komplettes Haus durch die Stadt tragen können.

Aber, Wolfgang, wo sind die grauen Fakten? Den ganzen Artikel lang poltert Röhl gegen Andersdenkende, verausgabt sich dabei aber so sehr, dass die Fakten auf der Strecke bleiben? Aus der rosaroten Kinderwelt erwachsen stellt man rasch fest, dass ebenjene graue Fakten vor allem als Rauchschwaden durch die Häuserschluchten wabern. Selbst den konservativen Vordenkern der Achse des Guten müsste langsam bewusst sein, dass eine gewisse Mobilititätswende, wie sagt man so schön, alternativlos ist — und glücklicherweise bereits im Gange ist. Wir schaffen das! Ganz sicher!

Denn ganz unabhängig davon, wie groß nun der antropogene Anteil am Klimawandel sein mag, ganz unabhängig davon, wie viele Dieselmotoren tatsächlich nur auf dem Prüfstand die Grenzwerte einhalten, draußen auf der Straße aber heimlich die Sau rauslassen, ganz unabhängig davon, ob Feinstaub tatsächlich Alzheimerdemenz fördert oder nicht, dass die grauen Visionen einer autogerechten Stadt inklusive eines aufs Automobil zugeschnittenen Lebensils eher ein Relikt der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind, das müsste sich auch bei der Achse des Guten so langsam herumgesprochen haben, denn schließlich lautet die eigene Beschreibung des Weblogs immerhin:

Unser Blog ist für viele Leser zu einem Leitmedium für politische Analyse und Kritik geworden. Achgut.com bietet Raum für unabhängiges Denken. Die Autorinnen und Autoren lieben die Freiheit und schätzen die Werte der Aufklärung. Sie versuchen populären Mythen auf den Grund zu gehen, und sind skeptisch gegenüber Ideologien.

Die komplette Selbstbeschreibung schreit doch geradezu danach, mal aus dem eigenen Auto auszubrechen und sich in ein Abenteuer des Alltags zu stürzen. Komm doch mal mit zur Critical Mass, Wolfgang, der Metronom sammelt dich in Stade ein und fährt dich am Stau vorbei zum Hauptbahnhof. Na klar, man mag die ganze Fahrradkultur als einen gefährlichen Auswuchs linksgrün-versiffter Ideologie ansehen, aber hey, der autozentrierte Anspruch, Städte für Autos und nicht für Menschen zu entwerfen, der riecht ähnlich ideologiegeladen. Schau dir doch mal die andere Seite an, über die du so wortgewandt schreibst.

Denn, um mal wieder zur eigentlichen Problematik zurückzukehren, der Stau, über den sich Wolfgang Röhl so sehr beklagt, den gibt’s nicht nur am letzten Freitag im Monat, nicht nur täglich, nein, gar zwei Mal täglich, nämlich immer dann, wenn viele Menschen gleichzeitig meinen, es wäre eine total gute Idee, genau jetzt mit dem eigenen Auto in die Stadt zu fahren (oder eben abends wieder raus aus der Stadt). Zwei Mal am Tag leuchten die deutschen Großstädte knallrot auf der Google-Maps-Verkehrsansicht und das liegt nicht etwa daran, dass irgendwo verstreut hier und da ein Radfahrer „trotz Radweg mitten auf der Straße“ fährt.

Es gibt einfach zu viele Autos.

Und dagegen hilft nur bedingt, an den Hauptverkehrsstraßen links und rechts noch einen weiteren Fahrstreifen ranzuklatschen in der Hoffnung, der Verkehr werde dann schon irgendwie besser fließen; viel hilft viel, sagt man nicht so? Dass zusätzliche Fahrstreifen zusätzlichen Kraftverkehr generieren, der sich dann spätestens an der nächsten nicht so gut ausgebauten Kreuzung stauen wird, ist schon lange kein Geheimnis der Verkehrsplaner mehr.

Entgegen aller grauen Fakten ist die Sachlage eigentlich recht klar: In der Stadt ist kein Platz für mehr und noch mehr Kraftfahrzeuge. Und es wird zwangsläufig darauf hinauslaufen, die Freiheit des einzelnen Kraftfahrers einzuschränken, der womöglich gerne jede Strecke mit dem Auto fahren möchte, die länger als sein Fahrzeug ist.

Vorsicht: Ich will niemandem sein Auto wegnehmen. Wirklich nicht.

Wolfgang, lass dich mal bitte auf ein Gedankenspiel ein. Komm kurz mit in meine rosarote Kinderwelt und stell dir vor, dass von all den Kraftfahrern, die täglich nach Hamburg rein oder raus pendeln und ganz problemlos und ohne große Komforteinbußen auf das Fahrrad oder öffentliche Verkehrsmittel umsteigen könnten, weil sie keine großen Lasten transportieren müssten, Wohnung und Arbeitsplatz an der selben Schnellbahn-Linie liegen oder der Weg zur Arbeit eine halbstündige Radtour entlang eines lauschigen Radwanderweges darstellen könnte oder keine Kinder morgens zur Schule und nachmittags zum Fußball chauffiert werden müssen oder kein Problem damit haben, dass der Sitznachbar im Bus gerade einen Döner mit Scharf gegessen hat, stell dir mal vor, dass von all diesen Verkehrsteilnehmern, die nicht zwingend auf ihr Auto angewiesen sind, jeder dritte auf öffentliche Verkehrsmittel oder aufs Fahrrad umstiege.

Schon wären die Fahrbahnen ein bisschen leerer, in der Stadt wären ein paar zusätzliche Parkplätze frei, aber der Kraftverkehr bräche noch nicht zusammen, weil Kraftfahrer an Kreuzungen plötzlich aufgrund eines unendlichen Radfahrer-Stromes nicht mehr rechts abbiegen könnten.

Stell dir vor, dass plötzlich Handwerker/Lieferanten/Monteure pünktlich bei ihren Lieben wären, weil ein Drittel des nicht alternativlosen Kraftverkehrs plötzlich Raum lässt für jene, die wirklich auf ihr Auto angewiesen sind. Stell dir vor, dass Außendienst-Mitarbeiter spätabends noch einen Parkplatz in fußläufiger Nähe ihrer Wohnung finden. Stell dir vor, dass du nicht deinen Flug nach Südostasien verpasst, weil entlang der Alsterkrugchaussee mal wieder „Schicht herrschte“.

Und nun stell dir vor, das zweite Drittel stiege auch noch um.

Und dann das dritte Drittel.

Die Sache mit den Schadstoffgrenzwerten in der Luft hätte sich quasi von selbst erledigt. Die Straßen wären nicht ständig kaputt, die Parkplätze nicht ständig belegt, der Stau vor der A7 nicht ständig im Verkehrsfunk. Anwohner entlang der Hauptverkehrsstraßen könnten mal wieder die Fenster öffnen, Kinder wieder auf der Straße spielen, man könnte sich sogar bei einem Spaziergang vernünftig unterhalten, ohne sich anbrüllen zu müssen.

Nun gehört zur Freiheit des Menschen aber auch die Freiheit, unsinnige Dinge zu tun. Wenn jemand meint, er müsse die berühmten dreihundert Meter zum Bäcker unbedingt mit dem Auto zurücklegen oder am Jungfernstieg seinen dröhnenden Sportwagen spazieren fahren, dann darf er das tun. Niemand hält ihn auf.

Niemand verlangt, dass Radelei den Verkehr einer Stadt darstellen soll. Bis auf Weiteres werden Warenanlieferungen noch mit Lastkraftwagen abgewickelt, bis auf Weiteres Baustoffe noch mit Lastkraftwagen angeliefert, bis auf Weiteres wird nicht jeder Handwerker und nicht jeder Paketlieferdienst auf Lastenräder umsteigen.

Aber: Zur Freiheit des Menschen gehört eben auch, sich auf solche Gedankenspiele einzulassen.

Schlussworte

Was die „Critical Mass“ betrifft, so handelt es sich um einen Begriff aus der Kernphysik, welcher auch in die Spieltheorie eingegangen ist. Danach muss nicht die gesamte Gruppe von einer Strategie überzeugt werden. Es genügt, wenn eine bestimmte Anzahl von Menschen hinter ihr steht, damit sich die Strategie „selbsttragend“ durchsetzt. Frei übersetzt: sogar eine kleine Minderheit, sagen wir zehn Prozent oder so, kann eine kritische Masse bilden und eine Gesellschaft tiefgreifend verändern. Wenn auch nicht zwingend zu deren Vorteil.

Veränderungen geschehen tatsächlich nicht zwingend zum Vorteil einer Gesellschaft, aber niemand bestreitet, dass der Mobilitätswandel auch Nachteile mit sich bringen wird.

Was mich an der Critical Mass allerdings so fasziniert, dass ich seit Juni 2011 keine einzige Tour in Hamburg verpasst habe, ist die Leichtigkeit, mit der das Fahrrad als technisch recht einfaches Gerät die Richtung einer ganzen Gesellschaft beeinflussen kann. So gesehen ist die Critical Mass womöglich auch eine Art Marketingmaschine auf Rädern: Plötzlich ist das Fahrrad unter positiv klingenden Schlagzeilen in den Medien präsent, plötzlich wird der Radverkehr stärker bei der Verkehrsplanung berücksichtigt, plötzlich fahren Menschen mit dem Rad zur Arbeit, die den Drahtesel erst kurz zuvor für eine Critical Mass aus dem verstaubten Keller geborgen haben.

Wenn sich diverse wissenschaftliche Untersuchungen einig sind, dass die Mobilität in der Stadt der Zukunft weder mit konventionell noch mit elektrisch angetriebenen Kraftfahrzeugen sichergestellt werden kann, sollte man mal anfangen, sich ein paar rosarote Gedanken zu machen, wie die Mobilität der Zukunft aussehen kann. Martin Randelhoff betreibt zu diesem Thema ein sehr lesenswertes Weblog, in dem die Verbrennungsmaschine eine eher untergeordnete Rolle spielt — und Randelhoff steht gemeinhin nicht im Verdacht, linksgrünen Ideologien hinterherzuschmachten.

Das beste an der Mobilität der Zukunft ist aber, Wolfgang, dass du gar nichts dafür tun musst.

Es genügt, wenn eine bestimmte Anzahl von Menschen hinter ihr steht, damit sich zukunftsfähige Mobilitätsformen durchsetzen.

Oder, wie du so schön selbst zitierst:

Wir schaffen das!